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6 novembre 2010

Laufgeschichte. Für Paul Austers Red Notebook.

mura600

Heute Früh beim Lauf durch den Blätterteppich erzählt mir L: An einem Morgen - "Morgen" bedeutet bei L. relativ früh (wir gehen ja auch am Samstag um 9 Uhr laufen, aber das sei hier nur am Rande vermerkt...) - sie Itchy feet-Syndrom, er dagegen noch tief schlafend im Bett. Anfangs hatte sie versucht, neben ihm zu lesen, zusammengekauert im Lehnstuhl am Fenster neben dem Bettende. In Mäuschenmanier. Aber neben dem Mäuschen schnarchte der Käse. Konzentrieren ging so nicht. Dabei lag es so schön in der Hand, das Buch von Haruki. Sie drehte es in ihren Händen, befühlte es, fuhr mit den Fingern dem gestanzten Schriftzug auf dem Buchumschlag nach. Sie schlug das Buch aber nicht auf. Sie kam nicht über den Namen des Autors hinaus, dessen Buchstaben sie unter ihren Fingern fühlte, der sich in ihrem Kopf in der Warteschleife eingefahren hatte. Haruki Murakami. Imakarum Ikurah klänge ebenso gut, befand sie, die Finger nun rückwärts laufen lassend.  Als ich nachfrage, wie das Buch denn geheißen habe, meint sie, sie habe den Titel des Romans mittlerweile vergessen, ebenso wie sie sich nicht mehr entsinne, worum es in dem Buch gegangen ist. Bestimmt wars eine seltsame Geschichte. Aber damals war ja alles mit ihm noch so frisch, so aufregend und einnehmend gewesen, das heißt, wirklich beschäftigt hatte sie ihre eigene Geschichte, und nicht die Lektüre eher willkürlich gegriffener Bücher, die die Schmetterlinge im Bauch ein wenig ablenken sollten. Mit diesem Buch sei es aber trotzdem anders gewesen. Titel weg, Inhalt weg, aber das Gefühl auf den ersten paar Seiten spüre sie noch heute. Ich unterbreche sie nicht mehr.
Nachdem er nicht im Begriff schien aufzuwachen, zog L. sich nachlässig, leise an. Schlüpfte in die Jeans, streifte einen Pulli über, nahm ihre Tasche, warf Haruki hinein und verließ die Wohnung. Am Vorabend hatte sie unweit ein gemütlich aussehendes Café mit ausladenden Großmütter-Lehnstühlen bemerkt, und der Gedanke an die billigen Teebeutel in der winzigen Küche eines Morgenkakaotrinkers, extra für sie gekauft, wie er ihr am Vorabend zärtlich geflüstert hatte, hatte ihr sowieso nicht sonderlich Lust gemacht. Schnellen Schrittes dirigierte sie sich durch die zur Arbeit steuernde Morgenmenge, durch die Anzugtypen und die Kinder auf dem Weg zur Schule, zum Kindergarten, zum Babysitter.
Das Café hatte bereits offen, Laufkundschaft ging aus und ein, in einer Ecke hinter der Fensterscheibe war ein kleiner runder Tisch frei. L. bestellte am Tresen Tee und ließ sich nieder. Sie beobachtete die aus- und eingehenden Menschen: Wer nimmt einen schnellen Kaffee am Tresen, wer frönt der Kaffeekultur auf der Straße im Pappbecher. Schließlich brachte ihr der Kellner ihren Tee. Sie goß sich eine heiß dampfende Tasse ein, bevor sie Haruki aus ihrer Tasche nahm. Sie schlug das Buch auf, ohne wieder in die Ikurah-Falle zu tappen. Sie begann zu lesen, vor ihren Augen tanzten sich die Buchstaben in ihren Kopf, bildeten Figuren und Bilder. L. machte Bekanntschaft mit Harukis Protagonistin, einer jungen Frau. Mittelgroß, schlank, von zierlicher, fast filigraner Gestalt. Das Haar dunkel, glatt, das längliche Gesicht umrahmend. Die Augen von heller Klarheit. Wenn sie lächelte, veränderte sich die Form des Gesichts, rundete sich, wurde weicher. Sie lächelte oft, aber wenn sie zuhörte oder las, nahm ihr Mine eine konzentrierte Strenge an. Sie trug einen Pulli, der auch schon einmal bessere Tage erlebt hatte. Farbe Lila. Sie mochte ihren Pulli so sehr, dass sie ihn jeden Samstag wusch, um sich so nur sonntags von ihm trennen zu müssen, während er auf der Wäscheleine trocknete. Die Jeansbeine der jungen Frau fielen auf knallgelbe Turnschuhe, die sie sich erst am Tag davor gekauft gehabt hatte. Ein Impulskauf, wie sie ihr nicht oft passierten, aber sie hatte sich von der kräftigen Farbe der Schuhe in den Bann ziehen lassen. Die Morgenstunden verbrachte sie am liebsten in Kaffeehäusern, Tassen heißdampfenden Tees schlürfend, denn nur dort konnte sie sich auf das Lesen konzentrieren.

Ls Augen hatten sich beim Lesen geweitet. Nun hielt sie inne, blickte verwirrt auf und in das spiegelnde Fenster des Cafés, wo sie ihren Blick traf. Die dunklen Haare glatt ihr längliches Gesicht umrahmend. Ihre hellen, klaren Augen ungläubig blitzend. Sie versuchte versuchsweise zu lächeln und sah ihrem Gesicht beim Weiterwerden zu, befühlte mit der Hand, wie sich die Position der hochangesetzten Backenknochen veränderte. Sie sah an sich herunter und zupfte einen der unzähligen Fuseln von ihrem lila Pulli. Lila. The Color Purple. Tony Morrisson. Ob T.M. schon wach war? Morgen, Samstag, würde sie ihn waschen müssen, also den Pulli, und bald wohl auch einmal nach Ersatz suchen müssen, es half alles nichts. L. sah auf ihre Schuhe. Sie trug ihre ausgetretenen Lederschuhe mit der löchrigen Sohle und dachte an die Schuhe zurück, die sie am Vortag in einer Vitrine angelacht hatten. Knallgelbe Sneakers waren das gewesen, und wäre es nicht Monatsende, dann hätte sie sie wohl gekauft.
L. blickte zurück auf ihr Buch, las aber nicht weiter, sondern sah sich verstohlen im Café um. Es war nun ruhiger geworden, an einem Tisch verschwnd ein Herr hinter einer großen aufgeklappten Zeitung. An einem anderen eine Dame mit einem kleinen Hund. Die zwei Kellner hinter dem Tresen unterhielten sich, während sie Kuchenstücke in die Vitrine schlichteten. Niemand nahm Kenntnis von ihr. Was hätte sie sich auch erwartet? Dass Haruki selbst, als Ikurah verkleidet, in einer Ecke sitzt und sie abwartend beobachtet und ihr grinsend zuwinkt, wenn sich ihre Blicke treffen? 
Zögernd-gespannt senkte L. ihre Augen wieder auf das Buch, bereit weiterzulesen. Da überkam sie ein anderer Impuls. Sie griff nach ihrer Tasche, kramte ihre Geldbörse hervor und vergewisserte sich des Inhalts. Wirklich leisten konnte sie sich die Schuhe ja nicht. 10 Euro fehlten ihr genau. Am Nebentisch stand ein Zuckerstreuer, aber auch gebrauchtes Geschirr. War ihr davor gar nicht aufgefallen. Eine Kaffeetasse auf einer Untertasse. Dazwischen war ein 10 Euro-Schein geklemmt.

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